Die „Hohe Straße“ in Kirdorf ist weit mehr als nur ein Name aus alten Dokumenten: Sie ist ein stiller Zeuge jahrtausendelanger Geschichte und gelebter Tradition. Im Gegensatz zur berühmten Einkaufsstraße in Köln, die ihren Namen im 19. Jahrhundert erhielt, handelt es sich bei der Kirdorfer „Hohen Straße“ um einen uralten Wallfahrtsweg. Vermutlich wurde er schon in der Römerzeit genutzt, und seine Spuren reichen sogar bis in die Steinzeit zurück. Eine offizielle Straßenbenennung mit diesem Namen gibt es nicht, aber er ist in alten Chroniken erwähnt.
Wallfahrtswege sind weit verbreitet. Sie entstanden meist aus einem Gelübde heraus, wie der Gymnicher Ritt, der in diesem Jahr sein 800-jähriges Jubiläum feiert. Viele Kirchen besaßen Reliquien, die oft als wundertätig angesehen wurden und Pilger aus nah und fern anzogen. Die Wallfahrt diente somit der Verehrung der Reliquien.
Zum Fest des Heiligen Willibrord kamen die Pilger nach Kirdorf, um die Reliquien des Heiligen zu verehren und das Willibrord-Quellwasser zu nutzen, dem eine heilende Wirkung zugesagt wurde. Die Pilger kamen aus Ameln, Kirchherten, Rödingen, Niederembt usw. und wanderten von westlicher Richtung über die „Hohe Straße“ nach Kirdorf. Natürlich kamen auch Pilger aus den benachbarten Orten Bedburg, Harff und Glesch, aber auch aus einiger Entfernung, beispielsweise aus Mönchengladbach oder Düren. Im Jahr 1908 wird berichtet, dass sich über 3.000 Personen die Wallfahrt mit Lichterprozession ansahen.
Der Weg selbst war Teil eines weitverzweigten Wegenetzes. Er führte von Kirdorf Richtung Niederembt. Nördlich von Kirdorf führte ein Weg Richtung Lipp und weiter nach Kaster. Auch von Kaster aus führte ein Wallfahrtsweg Richtung Lipp, der auch als „Hilliger Weg“ oder „Alter Prozessionsweg“ bekannt ist. Vor allem ab dem 15. Jahrhundert, als Bruderschaften gegründet wurden, kamen Prozessionen in Mode.
Oberhalb der Anhöhe von Niederembt verläuft dieser Weg zunächst in östlicher Richtung, macht dann einen südlichen Schwenk und schlängelt sich schließlich wieder in östlicher Richtung den Finkelbach entlang. Es handelt sich um einen uralten Weg. Heute überquert der Weg die Kreisstraße 38 und endet abrupt vor der Autobahn. Vor dem Bau der Autobahn führte er am Finkelbach weiter geradeaus, streifte den Kirdorfer Weiher und folgte dem Niederembter Weg. Er bog Am Kriegerweg links ab und endete hinter der historischen Willibrord-Kirche, wie auf der Tranchot-Karte zu sehen ist.
Am Rand dieses Wegs, kurz hinter Kirdorf in Richtung Niederembt bis zur Autobahn, wurde ein Schwert aus der Frankenzeit gefunden. Es könnte ein Überbleibsel einer Auseinandersetzung aus dem Frühmittelalter sein. Das Schwert wurde geborgen, begutachtet und in einem Depot gelagert. Heute ist es nicht mehr auffindbar.
Die alten Pilgerwege. Unterbrochene Linie ist die Fortführung der Wege.
1820 Nachzeichnung einer Tranchot-Karte
Der Weg wurde somit schon im frühen Mittelalter genutzt. Neben Gegenständen aus der Frankenzeit wurden auch Funde aus der Römerzeit dokumentiert. Laut Aussagen von Bauern finden sie noch heute auf den dortigen Landflächen römische Ziegelreste und Scherben. Somit kann man davon ausgehen, dass dieser Weg auch bei den Römern bekannt war und genutzt wurde. Kirdorf, so heißt es, sei der Kreuzungspunkt zweier Römerwege. Diese „Hohe Straße“ soll der Verlauf eines Römerwegs von Ost nach West sein. Es handelte sich dabei jedoch nicht um eine gepflasterte Römerstraße, sondern lediglich um einen befestigten Weg. Leider wurden bis heute keine archäologischen Untersuchungen durchgeführt, die diese These bestätigen könnten.
Das Gebiet entlang des Finkelbachs gilt als alter Siedlungsraum. Peter Bongartz, ein engagierter Kirdorfer Fundsammler, hat dort etliche Fundstücke entdeckt. Diese wurden zusammen mit Archäologen analysiert. Das Ergebnis zeigt, dass bereits vor etwa 15.000 Jahren Menschen hier durchgezogen sind und möglicherweise für eine längere Zeit hier gelebt haben. Dies deutet darauf hin, dass unsere „Hohe Straße“ bereits in der Steinzeit ein bekannter Weg war.
Die Hohe Straße in Kirdorf ist ein außergewöhnlich alter Weg, dessen Nutzung bis in die Steinzeit zurückreicht. Vermutlich wurde er bereits von den Römern als Verbindungsweg genutzt. Im Mittelalter wurde sie zu einem bedeutenden Wallfahrtsweg, auf dem Pilger aus der Region und darüber hinaus nach Kirdorf zogen, um die Reliquien des Heiligen Willibrord zu verehren. Funde aus verschiedenen Epochen belegen die lange Geschichte dieses Weges, der Teil eines weitverzweigten Netzwerks war und heute ein stilles Zeugnis jahrtausendelanger Siedlungs- und Pilgertradition darstellt.
Stand 2025
Illustrationen Dolfen